Eine Zeit schien im Vergaberecht alles klar. Einhellig gingen alle Vergaberechtler davon aus, dass das Vergaberecht insgesamt dem Privatrecht unterliegt. Eine Ausnahme hiervon macht lediglich der 4. Teil des Kartellrecht, das GWB (§§ 97 ff. GWB). Nach diesen Vorschriften wird nach dem Willen des Gesetzgebers ein eigenständiger ausschließlicher Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten für die Überprüfung vergaberechtlicher Entscheidungen festgelegt. Hierbei handelt es sich um Aufträge von öffentlichen Auftraggebern im Sinne von § 98 GWB, deren Auftragswert gemäß § 100 I GWB die so genannten Schwellenwerte überschreiten und die nicht die Ausnahmetatbestände des § 100 II GWB erfüllen. Für die anderen Aufträge stand lediglich der Rechtsweg zu den Zivilgerichten offen. Und damit herrschte für diese Aufträge faktisch ein rechtsfreier Raum.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Gerichte, die den Zugang zu den Verwaltungsgerichten auch unterhalb der Schwellenwerte eröffnen
- 2. Gerichte, die den Zugang zu den Verwaltungsgerichten unterhalb der Schwellenwerte nicht eröffnen
- 3. Kurzdarstellung über die Entscheidungsfront
- 4. Überblick über den rechtlichen Hintergrund der Fragestellung
- 5. Fazit
Aber diese so eindeutige, aber aus Sicht der Bieter höchst unverständliche und diskriminierende Rechtspraxis wurde zunehmend in Frage gestellt. So entschieden sich die Gerichte mal für und mal gegen den verwaltungsgerichtlichen Zugang.
1. Gerichte, die den Zugang zu den Verwaltungsgerichten auch unterhalb der Schwellenwerte eröffnen
Das Oberverwaltungsgericht Koblenz machte den Anfang (Beschluss des OVG Koblenz vom 25.05.2005 - 7 B 10356/05 (siehe auch unser Beitrag "Ende des rechtsfreien Raumes bei Vergabe unterhalb der Schwellenwerte"). Es entschied sich in seiner viel beachteten Entscheidung dafür, den Verwaltungsrechtsweg auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 98, 100 GWB zu eröffnen. Das Vergaberecht habe, so das Gericht, nach der Zwei-Stufen-Theorie eine verwaltungsrechtliche und eine zivilrechtliche Seite. Die erste Stufe sei das eigenständige hoheitliche Entscheidungsverfahren des Auftraggebers, das zum Zuschlag führe. Die zweite Stufe sei der Zuschlag selbst. Er stelle zivilrechtlich die Annahme des Angebots des Auftragnehmers dar. Hierdurch werde ein privatrechtlicher Vertrag als Umsetzung der Zuschlagserteilung abgeschlossen. Die erste Stufe unterliege öffentlich-rechtlichen Bindungen und damit der verwaltungsrechtlichen Kontrolle. Zu den einheitlichen Bindungen gehörten die Richtlinien der VOL/A, auf die gem. §§ 55 der Landeshaushaltsordnungen und Bundeshaushaltsordnung Bezug genommen wird. Wenn die Sonderzuweisung zu den Vergabekammern und Senaten gem. § 100 GWB nicht vorliege, stehe dann aber der Rechtsweg zu den allgemeinen Verwaltungsgerichten gem. § 40 I VwGO offen.
Zunächst erschien dies als Außenseitermeinung aber weitere Entscheidungen folgten.
So bejahte das OVG Nordrhein-Westfalen ebenfalls die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit außerhalb des Kartellvergaberechts. Bei dieser Entscheidung handelt es sich, soweit ersichtlich, um die erste Hauptsacheentscheidung in der Berufungsinstanz, so dass erstmals der Weg zu einer Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht frei ist. (Beschluss v. 11.08.2006 – 15 E 880/06) Mehrere weitere Oberverwaltungsgerichte (OVG Sachsen, 13.04.2006 – 2 E 270/05; vgl. auch VGH Hessen, 20.12.2005 – 3 TG 3035/05) haben sich ebenfalls auch unterhalb der EU-Schwellen für zuständig erklärt.
2. Gerichte, die den Zugang zu den Verwaltungsgerichten unterhalb der Schwellenwerte nicht eröffnen
Das Bundesverfassungsgericht( BVerfG) entschied dann im Juni 2006 grundsätzlich, dass die Beschränkung des Rechtsschutzes nach dem GWB auf Vergaben oberhalb der Schwellenwerte verfassungsgemäß sei (Beschluss vom 13.06.2006 – 1 BvR 1160/03),
Zwar war es nicht die Aufgabe des BVerfG zu entscheiden, ob der Verwaltungsrechtswegs auch unterhalb der Schwellenwerte offen steht. Aber die Entscheidung des Gerichts steht in unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Frage. Denn das Gericht hatte zu entscheiden, ob es verfassungswidrig sei, den für EU-Vergaben geltenden Primärrechtsschutz (einschließlich der Vorabinformationspflicht des § 13 VgV) nur oberhalb der Schwellenwerte in Anspruch nehmen zu können.
Das Gericht sah keine Verletzung des Bieters in seinem Recht auf Justizgewährung aus Art. 20 Abs. 3 GG. Es betonte, dass Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte als "Massenphänomen" einzustufen sind. Würden hier stets bestimmte Verfahrensvorkehrungen getroffen werden, käme es zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Arbeit der Verwaltung. Ein wirtschaftliches Beschaffungswesen wäre dann kaum mehr möglich. Den Ausgleich mangelnden Primärrechtsschutzes sah das Gericht in der Möglichkeit der Geltendmachung etwaiger Schadensersatzansprüche vor den Zivilgerichten.
Die Entscheidung enthält damit eine Reihe genereller Aussagen, die eher die bisherige Lehre stützen, nach der enttäuschte Bieter im Unterschwellenbereich normalerweise nur Schadenersatz vor den Zivilgerichten geltend machen, nicht aber auf dem Verwaltungsgerichtsweg den Zuschlag verhindern können.
So betont das BVerfG auch, dass das Haushaltsrecht, aus dem sich die Pflicht zur Anwendung der Vergabevorschriften unterhalb der EU-Schwellen ergebe, nicht zum Schutz der Bieter diene, sondern ausschließlich dem Interesse der öffentlichen Hand an einer sparsamen und wirtschaftlichen Mittelverwendung. Auch der Hinweis des Gerichts auf das mögliche Missverhältnis von Kosten und Nutzen eines umfassenden Primärrechtsschutzes im Unterschwellenbereich weist in diese Richtung.
Damit schien der Trend gebrochen, mehrere Gerichte folgten seitdem zur Erleichterung der öffentlichen Beschaffer und zur Erbitterung der Anbieter der vom BVerfG vorgegebenen Linie.
So hat der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg in seinem jetzt veröffentlichten Beschluss vom 30. 10. 2006 (6 S 1522/06 –Brückensanierung-) den Erlass einer Einstweiligen Anordnung auf Untersagung des Zuschlags abgelehnt.
Nach der Entscheidung des VGH handelt es sich bei einem Auftrag unterhalb des Schwellenwerts um eine bürgerlich-rechtliche Streitigkeit. Der bürgerlich-rechtliche Charakter folge nach Überzeugung des Senats schon aus dem sachlichen Inhalt des Begehrens. Die Heranziehung der „Zwei-Stufen-Theorie” verfehle grundlegend die Eigenart des konkreten Lebenssachverhalts, denn die Einbindung des Kartellvergaberechts in das GWB stelle unmissverständlich klar, dass der Gesetzgeber die Vergabe öffentlicher Aufträge dem bürgerlichen Recht zuordnen wolle. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz sei nicht einschlägig, weil die Vergabestelle nicht als Trägerin öffentlicher Gewalt im Sinne dieser Vorschrift handele. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch werde von den ordentlichen Gerichten ebenso erfüllt wie von den Verwaltungsgerichten. Streitigkeiten über die Vergabe öffentlicher Aufträge, die unterhalb des "Schwellenwerts" des § 100 Abs. 1 GWB lägen und daher nicht vom Vierten Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB §§ 97 ff) erfasst würden, seien somit keine öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, sondern bürgerliche Rechtsstreitigkeiten im Sinne von § 13 GVG.
Damit folgt der VGH einer Reihe anderer Oberverwaltungsgerichten, die sich ebenfalls gegen den Verwaltungsrechtsweg ausgesprochen hatten. So hatte bereits auch das OVG Niedersachsen, 14.07.2006 – 7 OB105/06; das OVG Berlin-Brandenburg,28.07.2006 – 1 L 59.06 und das OVG Berlin-Brandenburg(Beschluss v. 08.08.2006 – 6B 65.06) den Rechtsweg über die Verwaltungsgerichte unter den Schwellenwerten abgelehnt.
3. Kurzdarstellung über die Entscheidungsfront
Die rechtliche Auffassung der einzelnen Oberverwaltungsgerichte zum Rechtschutz der Bieter auch unterhalb der Schwellenwerte stehen somit im diametralen Gegensatz.
Die Frontlinie verläuft wie folgt:
Für den Rechtschutz vor den Verwaltungsgerichten unterhalb der Schwellenwerte und der anderen Voraussetzungen des GWB sind die Gerichte in
- Nordrhein-Westfalen
- Rheinland-Pfalz
- Sachsen
Den Rechtsschutz verweigern die Verwaltungsgerichte in
- Berlin
- Brandenburg
- Baden-Württemberg
- Niedersachsen
Bei einer so begründeten Rechtsunsicherheit ist es sehr bedauerlich und verwunderlich, dass das Bundesverfassungsgericht die ihm gebotene Möglichkeit nicht nutzte, mit einer Grundsatzentscheidung Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen. Eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes wird die notwendige Klarheit schaffen.
4. Überblick über den rechtlichen Hintergrund der Fragestellung
Für Vergabepraktiker ist die Frage des Rechtswegs von erheblicher praktischer Bedeutung, denn der Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten ist wesentlich bieterfreundlicher als der Rechtsschutz vor den Zivilgerichten.
Um dies näher zu erläutern, wird im Folgenden kurz auf den Rechtschutz der Bieter im Vergabewesen im Allgemeinen eingegangen.
In der Diskussion über den Rechtsschutz im öffentlichen Auftragswesen spielen die Begriffe "Primärrechtsschutz" und "Sekundärrechtsschutz" als definitorisches Gegensatzpaar eine besondere Rolle.
- Primärrechtsschutz bedeutet die Existenz von und die Durchsetzungsmöglichkeit für Ansprüche auf eine bestimmte Verhaltensweise des Auftraggebers bei der Vertragsanbahnung und im Vergabeverfahren bis zum Abschluss des Vertrages. Der Zuschlag kann also verhindert werden.
- Sekundärrechtsschutz bedeutet die rechtlichen Auswirkungen, die sich zugunsten des im Vergabeverfahren falsch behandelten potenziellen Auftragnehmers ergeben oder in Gang gebracht werden können, wenn der Auftraggeber falsch gehandelt hat und seine Handlung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen irreversibel, also der Zuschlag nicht mehr vermeidbar ist.
Vor den Zivilgerichten gibt es bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen keinen Primärrechtsschutz im beschriebenen Sinne. Die Vorstellung, dass mit der Vergabeentscheidung in einzelne Rechtspositionen eines interessierten Unternehmens eingegriffen wird, ist dem deutschen Rechtsdenken fremd geblieben. Das gilt auch für Unternehmen, die bereits am Vergabeverfahren beteiligt sind, sei es, dass sie sich auf eine Bekanntmachung hin als interessiert gemeldet haben (Bewerber), sei es, dass sie im Laufe eines Vergabeverfahrens ein Angebot abgegeben haben (Bieter). Wenn als Rechtsschutz nur der Schutz subjektiver Rechte angesehen wird, gibt es also im traditionellen deutschen Vergaberecht keinen primären Rechtsschutz.
Ein sekundärer Rechtschutz ist denkbar aus zivilrechtlichen Gründen. Wenn der Auftraggeber z. B. nachweisbar gegen Vergabeprinzipien verstoßen hat, wäre ein Anspruch aus schuldhafter Pflichtverletzung bei Vertragsabwicklung denkbar. Denkbar ist auch ein deliktischer Anspruch aus § 823 Abs.1 BGB wegen eines schuldhaften Eingriffs in den Gewerbebetrieb des Bieters.
Ist das Verwaltungsrecht anwendbar, haben die Bieter nach § 97 Abs. 7 GWB Anspruch darauf, dass der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält. Anspruchsberechtigt ist jedes "Unternehmen" im kartellrechtlichen Sinne, d.h. jede Person, die im Wirtschaftsverkehr auftritt. Anspruch bedeutet ein eigenes subjektives Recht, das wie jedes andere Recht gerichtlich durchsetzbar ist. Anspruchsinhalt ist die Berechtigung, von jedem öffentlichen Auftraggeber im Aktionsradius des Unternehmens verlangen zu können, dass er sich nach den für ihn geltenden Bestimmungen über die Verhaltens- und Vorgehensweise beim Einkauf richtet. Dieser Anspruch erfasst alle Vergabebestimmungen.
Im Verwaltungsprozess gilt zudem im Gegensatz zum Zivilgericht der Amtsermittlungsgrundsatz; auch haben die Beteiligten ein Recht auf Akteneinsicht. Bedenkt man, wie viele zunächst dürftige Nachprüfungsanträge erst im Rahmen der Akteneinsicht treffend begründet werden, wird verständlich, welches prozessuale Risiko ein generelles Akteineinsichtsrecht für die Auftraggeberschaft darstellt
5. Fazit
Ob außerhalb des Vergabekartellrechtes auch der Verwaltungsgerichtsweg offen steht, ist ungeklärt. Die Antwort auf diese Frage bleibt einer höchstrichterlichen Entscheidung vorbehalten. Durch die zur Zeit bestehende Rechtsunsicherheit, ist es allen Behörden anzuraten, auch die Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellen so zu dokumentieren und die jeweiligen Zuschlagsentscheidungen so nachvollziehbar zu begründen, dass sie auch einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung stand halten.
Ein Nachteil ist gewiss: Die Spielräume für pragmatische und schnelle Vergabeverfahren schrumpfen.
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tarudeone / PIXELIO
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