Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Haftung eines Newsportals für fremde Kommentare
In Estland hatte ein Online-Newsportal einen Artikel auf seinen Internetseiten veröffentlicht. Der Artikel stieß auf große, kontroverse Resonanz und war für eine Reihe von Lesern Anlass, beleidigende und andere rechtsverletzende Kommentare mittels der Kommentarfunktion abzugeben. Die estländischen Gerichte verurteilten das Newsportal daraufhin zur Zahlung von Schadensersatz an die dadurch beleidigte Person einer Fährgesellschaft. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass in dieser Verurteilung keine Verletzung des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung zu sehen ist. Die IT-Recht Kanzlei erläutert die Hintergründe des Falles und dessen Auswirkungen auf die deutsche Rechtspraxis.
Inhaltsverzeichnis
- I. Die Haftung eines Portals für Äußerungen Dritter
- II. Der Hintergrund des Verfahrens vor dem EGMR
- 1. Der Sachverhalt des Falles
- 2. Das Verfahren vor den estländischen Gerichten
- III. Die Entscheidung des EGMR
- 1. Der EGMR prüft nur die Verletzung europäischer Grundrechte
- 2. Das Urteil des EGMR
- IV. Die Folgen der EGMR-Entscheidung für das deutsche Recht
- V. Fazit
I. Die Haftung eines Portals für Äußerungen Dritter
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (kurz: EGMR) – nicht zu verwechseln mit dem EuGH – hat in einem Verfahren eines Online-Newsportals namens Delfi aus Estland gegen den Staat Estland die Verurteilung des Newsportals durch estländische Gerichte zu einer Entschädigung in Geld in Höhe von 320 Euro wegen beleidigender Kommentare von anonymen Nutzern für vereinbar mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung erklärt (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2013, Az. 64569/09).
Die zivilrechtliche Haftung für die fremden Äußerungen und somit die Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz sei zwar eine Eingriff in das Recht des Newsportals auf freie Meinungsäußerung; der Eingriff sei jedoch angemessen und gerechtfertigt.
II. Der Hintergrund des Verfahrens vor dem EGMR
Das Verfahren vor dem EGMR war lediglich der letzte Akt einer ganzen Prozessserie vor estländischen Gerichten, in die das estländische Online-Nachrichtenportal Delfi verwickelt war.
1. Der Sachverhalt des Falles
Delfi ist ein in Estland weit verbreitetes Online-Nachrichtenportal, das ähnlich wie Newsportale in Deutschland täglich eine große Zahl an Beiträgen veröffentlicht. Mittels der in diesem Bereich üblichen Kommentarfunktion können Leser der Artikel ihre persönlichen Meinungen äußern und Kommentare abgeben.
Zur Veröffentlichung eines Kommentars müssen sich die Nutzer nicht registrieren, eine anonyme Äußerung ist somit möglich. Das Newsportal setzt allerdings zum Aufspüren rechtsverletzender Kommentare einen automatischen Wortfilter ein. Zudem gibt es einen „*Alarmknopf*“, durch den Internetnutzer Kommentare melden können, die ihrer Meinung nach verwerflich und rechtsverletzend sind. Schließlich durchsuchte das Newsportal selbst stichprobenartig seine Webseiten auf rechtsverletzende Äußerungen Dritter.
Nach der Veröffentlichung eines öffentlichkeitswirksamen Beitrags über neue Fährrouten einer Fährgesellschaft in der Ostsee auf dem Newsportal Delfi gaben viele Leser hierzu Kommentare ab. Dabei kam es auch zu Beleidigungen und Drohungen gegen die in dem Nachrichtenbeitrag erwähnte Fährgesellschaft und ihre Mitarbeiter. Diese klagte daher gegen Delfi vor einem estländischen Gericht auf Unterlassung der Veröffentlichung der rechtsverletzenden Kommentare und Schadensersatz.
2. Das Verfahren vor den estländischen Gerichten
Während in der ersten Instanz das estländische Gericht Newsportal Delfi nicht für die rechtsverletzenden Äußerungen der dritten Personen verantwortlich machte, da es sich die Kommentare der Nutzer nicht zu eigen gemacht habe und sie zudem keine entsprechende Überwachungspflicht getroffen habe, hob die Berufungsinstanz das Urteil auf und verwies es an die erste Instanz zurück.
Daraufhin verurteile das Gericht das Newsportal zu Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 320 Euro als Entschädigung in Geld für die Beleidigungen.
Entscheidend aus Sicht der estländischen Gerichte war, dass die Gerichte Delfi auch in Bezug auf die Kommentare der Leser als sog. Content Provider und nicht etwa bloß als rein technischer sog. Host-Provider, der lediglich Informationen weiterleitet und speichert, angesehen haben.
Aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben aus Artikel 14 und Artikel 15 der europäischen Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr (sog. „*E-Commerce-Richtlinie*“, in Deutschland sind diese Artikel in § 10 TMG umgesetzt worden) sind auch in Estland Host-Provider für fremde Informationen nicht verantwortlich. Zudem sei das Überprüfungs- und Kontrollsystem von Delfi untauglich gewesen.
Auch das oberste Gericht Estlands bestätigte die Rechtsauffassung der Instanzgerichte Estlands. Insbesondere hielt es Delfi gleichfalls für keinen Host-Provider, sondern für einen Content-Provider, der für die Äußerungen der Leser verantwortlich sei. Das von den Beleidigungen betroffene Fährunternehmen habe sich daher aussuchen können, ob es gegen die Verfasser der rechtsverletzenden Kommentare oder gegen das Newsportal vorgehen möchte.
Ersteres sei aber regelmäßig wegen der Anonymität im Internet kaum möglich. Zwar bestehe für das Newsportal aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben keine Vorab-Prüfpflicht, jedoch hätte das Kontrollsystem effektiver ausgestaltet werden müssen. Auf die europarechtlich vorgegebene Privilegierung von Host-Providern könne sich das Newsportal jedoch nicht berufen; denn reine Host-Provider hätten schon strukturell keine Kenntnis von den übermittelten und gespeicherten Daten und könnten diese nicht kontrollieren. Dies treffe auf Delfi gerade nicht zu.
III. Die Entscheidung des EGMR
Im Anschluss an die Verurteilung zum Schadensersatz durch die estländischen Gerichte wandte sich Delfi mit einer Klage gegen Estland an den EGMR.
Das Online-Newsportal rügte dabei die Verletzung seiner Freiheit der Meinungsäußerung aus Artikel 10 EMRK (Europäische Menschenrechtskommission) durch die Urteile der estländischen Gerichte.
1. Der EGMR prüft nur die Verletzung europäischer Grundrechte
Der EGMR prüft in seinen Verfahren nicht, ob die Gerichte der betroffenen EMRK-Mitgliedsstaaten das jeweilige nationale Recht in korrekter Weise ausgelegt haben oder Unionsrecht richtig angewendet worden ist; letzteres ist allein Aufgabe des EuGH (Europäischen Gerichtshofes).
Der EGMR prüft lediglich, ob ein Staat – etwa durch seine Rechtsprechung der Gerichte – aus seiner Sicht Garantien der Menschenrechte aus der EMRK verletzt hat. Aus einer Entscheidung des EGMR folgen somit keine unmittelbaren Vorgaben, wie bestimmte nationale oder unionsrechtliche Vorschriften zukünftig ausgelegt werden müssen. Vielmehr steht am Ende eines Verfahrens vor dem EGMR bloß die Erkenntnis, dass die jeweilige Anwendung des Rechts in einem Mitgliedstaat die Garantien aus der EMRK verletzt oder nicht.
2. Das Urteil des EGMR
Im Fall „Delfi AS gegen Estland“ hat der EGMR keine Verletzung des Rechts der Freiheit der Meinungsäußerung aus Artikel 10 EMRK gesehen.
Zwar würde das Urteil in das Recht der Freiheit der Meinungsäußerung von Delfi eingreifen. Dieser Eingriff sei jedoch gerechtfertigt. Delfi habe bei einem derartig öffentlichkeitswirksamen und strittigen Thema mit einer Vielzahl – gerade auch kontroverser und beleidigender – Kommentare rechnen müssen. Zwar bestehe keine generelle Vorab-Prüfpflicht in Bezug auf solche Leser-Kommentare, allerdings hätten bei einem derart kontroversen Thema erhöhte nachlaufende Prüf- und Überwachungspflichten bestanden.
Delfi sei ein kommerzielles Online-Nachrichtenportal, das mit Werbung Geld verdiene. Bei einem solchen kontroversen Thema bekomme Delfi mehr Aufmerksamkeit, was auch höhere Werbeeinnahmen zur Folge habe. Zudem sei die Verurteilung zur Zahlung von 320 Euro kein schwerwiegender Eingriff in das Recht Delfis auf Freiheit der Meinungsäußerung.
IV. Die Folgen der EGMR-Entscheidung für das deutsche Recht
Die Entscheidung des EGMR wirkt sich nicht auf das deutsche Recht aus.
Der EGMR hat lediglich diesen einen konkreten Sachverhalt entschieden. Wäre das Newsportal von den estländischen Gerichten beispielsweise nicht zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 320 Euro, sondern 10.000 Euro verurteilt worden, so hätte der EGMR darin womöglich eine Verletzung des Rechts zur Freiheit der Meinungsäußerung gesehen.
- Für die Frage, ob die Haftung eines Online-Newsportals oder Bewertungsportals im Internet für beleidigende oder andere rechtsverletzende Äußerungen von dritten Personen gemäß dem jeweiligen nationalen Recht oder dem Unionsrecht gerechtfertigt ist, liefert die Entscheidung aus Sicht des deutschen Rechts keine neuen Erkenntnisse.
- Interessant ist jedoch, dass estländische Gerichte Portale wie Online-Nachrichtenseiten nicht als nach Artikel 14 und Artikel 15 E-Commerce-Richtlinie in der Haftung privilegierte Diensteanbieter ansehen, sondern als inhaltlich verantwortliche Content-Provider.
- Für die Rechtsanwendung in Deutschland ist hingegen alleine die Rechtsprechung der deutschen Gerichte – insbesondere des BGH – und des EUGH relevant.
- Dabei gilt: Ob es bei einem Diensteanbieter im Einzelfall um einen lediglich Host-Provider handelt, der weder Kontrolle noch Kenntnis über die weitergeleiteten oder gespeicherten Daten hat, oder um einen in rechtlicher Hinsicht weniger privilegierten Content-Provider, muss das jeweilige nationale Gericht entscheiden – in Deutschland somit die entsprechenden Instanzgerichte (so auch der EuGH, Urteil vom 23.3.2010, Az. C-236/08 Tz. 119). Ob dabei die Haftungsprivilegierung für Host-Provider nach § 10 TMG bloß die straf- und schadensersatzrechtliche Haftung der Diensteanbieter betrifft (so der BGH, Urteil vom 25.5.2011, Az. VI ZR 93/10) oder auch auf Unterlassungsansprüche anwendbar ist (so wohl der EuGH, Urteil vom 23.3.2010, Az. C-236/08 und teilweise verschiedene unterinstanzliche Gerichte in Deutschland), ist weiter rechtlich umstritten.
Weitere Ausführungen hierzu finden sich in einem früheren Beitrag mit dem Thema „Die Haftung des Betreibers eines Bewertungsportals oder Blogs für eigene und fremde Inhalte“.
V. Fazit
Das Urteil des EGMR zum Fall „Delfi AS/Estland“ ist für die deutsche Rechtspraxis kaum von Belang.
Die estländischen Gerichte haben das Newsportal Delfi nicht als nach Artikel14 und Artikel 15 der E-Commerce-Richtlinie (vergleichbar zu § 10 TMG) privilegierten Host-Provider sondern als Content-Provider angesehen. Dadurch haftete das Online-Nachrichtenportal nach Ansicht der estländischen Gerichte Delfi auch für die von Dritten abgegebenen rechtsverletzenden Äußerungen.
Die Rechtsanwendung der estländischen Gerichte ist jedoch für die Rechtspraxis in Deutschland ohne Bedeutung. Dass der EGMR in der Verurteilung von Delfi zur Zahlung von Schadensersatz durch die estländischen Gerichte keine Verletzung des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Artikel 10 der EMRK sieht, bedeutet lediglich, dass der EGMR die Freiheit der Meinungsäußerung nicht schrankenlos gewährleistet.
Für die Auslegung des deutschen Rechts, vor allem für die Unterscheidung von Content- und Host-Providern, spielt dies hingegen keine Rolle.
Die IT-Recht Kanzlei informiert Sie im Zuge einer umfangreichen Beitragsserie über die wichtigsten Rechtsfragen zum Thema „Die Haftung des Betreibers eines Bewertungsportals oder Blogs für eigene und fremde Inhalte“. Bei Problemen, Rückfragen und weiteren Fragen zu diesem Thema hilft Ihnen das Team der IT-Recht Kanzlei selbstverständlich gerne auch persönlich weiter.
Tipp: Sie haben Fragen zu dem Beitrag? Diskutieren Sie hierzu gerne mit uns in der Unternehmergruppe der IT-Recht Kanzlei auf Facebook.
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